Überlegungen von Claudine Larcher zum Versuchsheft
Das Versuchsheft ist sowohl dazu da, naturwissenschaftlich arbeiten zu lernen als auch naturwissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln. Und auch um gleichzeitig mit den Naturwissenschaften die Sprache zu entwickeln. Es steht im Zusammenhang einer allgemeineren pädagogischen Methode, die davon ausgeht, dass die Schüler/innen ihr Wissen dadurch erwerben, dass sie selbst aktiv sind – und nicht nur aufmerksam, empfänglich, passiv –, dass sie mit den anderen zusammenarbeiten und nicht nur der/dem Lehrenden zuhören.
Das Versuchsheft hat seinen Ursprung auch in der festen Überzeugung, dass das sprachliche Lernen vom übrigen Lernerwerb nicht getrennt werden sollte. Diese Überzeugung ist ebenso gewollt wie begründbar: Man möchte, dass die Naturwissenschaften nicht übergangen werden, weil die ganze Zeit ausschließlich dem so genannten "Grundlernerwerb" (Lesen, Schreiben, Rechnen) gewidmet wird, aber man kann auch wissenstheoretische wie praktische Gründe anführen.
Wissenstheoretisch (epistemologisch) ist die Sprache oder sind die Sprachen nicht zu trennen vom Umgang mit Gegenständen, von der Beobachtung von Phänomenen zum Aufbau naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Der Rückgriff auf die Sprache ist in einer persönlichen Dimension (Selbstgespräch, zum überlegen) ebenso notwendig wie in einer kollektiven Dimension (zur Diskussion mit den anderen, mit der Wissenschaftlergemeinde – der man nicht alles nur "vorführen" kann –, zur Gegenüberstellung, Prüfung, Bestätigung). Der Aufbau naturwissenschaftlicher Kenntnisse in der Schule verbindet sich daher mit dem Erlernen sprachlicher Genauigkeit sowohl auf der Wortschatzebene und in der Unterscheidung verschiedener Schriftformen (Beschreibung, Erzählung, Erklärung, Begründung...) als auch grammatikalisch (Satzbau, Zeiten der Tätigkeitswörter, Gebrauch von Adverbien oder Bindewörtern, Modalität).
Praktisch lehrt die Erfahrung, dass manche Schüler/innen, die wenig Neigung zum Lesen und Schreiben haben, sich von einem naturwissenschaftlichen Vorhaben dazu bewegen lassen, weil sie sich trotz ihrer sprachlichen Mangelhaftigkeiten einbringen und voll und ganz mitarbeiten können. In der praktischen Tätigkeit gewinnen sie Abstand vom Schreibenlernen, von einer Hürde, an der sie sonst vielleicht scheitern. Der/die Schüler/in kommt wieder zum Schreiben, wenn er/sie die Notwendigkeit und den Zweck für die naturwissenschaftliche Arbeit erkennt.
Es handelt sich um ein neuartiges Schulheft. Es ist keine Kladde, in der das Kind für sich selbst vorläufig aufschreibt, was keinerlei Bestand haben soll. Es ist auch kein Heft für die "Reinschrift" von Texten, deren Inhalt es zu lernen gilt. Ebenso wenig ist es ein Übungsheft, in dem die Schüler/innen die von der/dem Lehrenden aufgegebenen Übungen schreiben.
- Zum Unterschied vom Heft für "Reinschriften", und damit die Schüler/innen mit Schreibschwierigkeiten Distanz gewinnen können, wurde Wert darauf gelegt, dass die Schüler/innen selbst ganz darüber verfügen und dass der Zwang zur Rechtschreibung aufgehoben ist: "Die Schüler/innen schreiben mit ihren eigenen Worten".
- Zum Unterschied von der Kladde muss betont werden, dass das Heft die Schüler/innen während ihrer ganzen Schulzeit begleitet und ihnen als Arbeitsmittel dienen soll.
- Zum Unterschied vom Übungsheft ist hervorzuheben, dass es sich um ein "persönliches" Heft handelt, aber dass es auch dazu dienen kann, mit den Eltern Verbindung herzustellen.
- Damit es ein Heft zum Erwerb von naturwissenschaftlichem Wissen wird, muss ein Teil den Aufzeichnungen gewidmet sein, die in der Klasse für gültig befunden wurden und auf die der/die Schüler/in sich verlassen kann.
- Damit es ein Heft zum Lernen der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise wird, müssen die Schüler/innen darin Hinweise finden, mit denen sie sich nach und nach eine strenge "Arbeitsdisziplin" zulegen können: Um was geht es in den Naturwissenschaften, wie kommt man zu einer Antwort auf eine "naturwissenschaftliche" Fragestellung?
Natürlich ist das Versuchsheft nicht persönlich in dem Sinn, dass niemand einen Blick hinein werfen darf; in der Klasse tritt das Persönliche für die Schüler/innen in den Hintergrund. Die ersten Schritte verlangen geachtet, aber nicht überschwenglich beachtet zu werden, bestehenden Vorstellungen ist Rechnung zu tragen, aber auch ihrer Weiterentwicklung.
Natürlich darf das Versuchsheft nicht glauben machen, dass man in den Naturwissenschaften schreiben könne, wie man möchte, und dass die sprachliche Arbeit anderswo stattfindet, nämlich in der Deutschstunde. Die sprachlichen Zwänge (vorläufig) aufheben, heißt nicht, sie ganz abschaffen. Man muss einen Mittelweg finden.
Natürlich sollen die Schüler/innen nicht ganz allein die Zutaten und Eigenschaften der "naturwissenschaftlichen Herangehensweise" neu erfinden. Man kann sehr wohl, ohne eine "Methode" zu karrikieren, die starr und wenig realistisch daherkommt, den Schüler/innen die Herangehensweise vorführen und mit ihnen diskutieren, damit sie sie sich aneignen: Was ist zum Beispiel die Fragestellung? Was tun, um zu einer Antwort zu kommen? Was habe ich herausgefunden? Wie habe ich das gemacht? Wie könnte ich das besser oder anders machen? Wodurch gibt das, was ich gemacht habe, eine Anwort auf die Frage? Sind meine Ergebnisse mit denen der anderen verträglich? Sind die Ergebnisse der Gruppe mit denen der Wissenschaft verträglich? Es hat keinen Sinn, unpassende Titel vorzugeben. "Bestehende Vorstellungen" passt besser als "Hypothesen", wenn die zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen nicht im Lauf der Unterrichtsstunde geprüft werden und also nicht wirklich "Hypothesen" sind.
Eine wissenschaftliche Herangehensweise ist nicht notwendigerweise hypothetisch-deduktiv. Sie beruht auch nicht unbedingt auf Versuchen. Das Versuchsheft hätte man auch "Heft für wissenschaftliches Erkunden" nennen können. Die Herangehensweise ist wissenschaftlich, so lange sie einen Gültigkeitstest beinhaltet. Es geht darum, sich Kenntnisse über die Welt der Dinge anzueignen, über Phänomene, über Lebewesen, über die Welt, in der wir leben. Man muss unterscheiden können zwischen einem "geprüften" Wissen, und sei es nur ein Teilwissen, und allgemeinen Ansichten, die nicht hinterfragt werden.
Der Wechsel zwischen individueller Arbeit, Arbeit in kleinen Gruppen und Arbeit im Rahmen der gesamten Klasse sollte immer auch verbunden sein mit der persönlichen Niederschrift, ob vor oder nach dem Experimentieren, und mit der gemeinsamen Niederschrift. Letztere entweder vor dem eigentlichen Versuch, der dann gemeinsam durchgeführt wird, oder danach, um jeden einzelnen Beitrag in die Diskussion aufzunehmen. Es gibt keine feste Regel, die für jede Unterrichtsstunde gelten würde.
- Die individuelle Niederschrift hilft die eigenen Gedanken zu ordnen, um sie dann zu erklären und mit den anderen zu diskutieren; sie dient auch für Notizen während des Versuchs, um die Bedingungen, unter denen die Ergebnisse gewonnen wurden, festzuhalten. Letztendlich ist sie ein Motor des Nachdenkens und eine Spurensicherung für die Versuchstätigkeit.
- Die gemeinsame Niederschrift ist Arbeit an der Sprache und sie ergibt sich aus der Verhandlung in der ganzen Klasse und aus einer gemeinsamen Überprüfung, die jedoch nur eine vorläufige sein kann. Man muss sehr auf den genauen Ausdruck achten, damit keine Unklarheiten entstehen, wenn später auf die Niederschrift zurückgegriffen wird.
Das ganze Heft soll wirklich jedem/jeder Schüler/in ein Arbeitsmittel sein können.
Alle manchmal etwas paradoxen Vorgaben wurden von Lehrenden aus ihren Erfahrungen heraus, mit Phantasie und Fingerspitzengefühl gemacht, in der Absicht ein Heft ganz eigener Art zu entwickeln. Sie haben ausprobiert, haben Ideen ausgetauscht, haben das Für und Wider ihrer Vorschläge abgewogen, haben diese mit Kolleg/inn/en diskutiert, verändert, angepasst; sie haben schließlich einen "Stil" gefunden, der ihnen zusagt und der – zusammen mit anderen Schriftformen – dieses individuelle Arbeiten jedes Schülers und jeder Schülerin ermöglicht, diese gemeinsame Arbeit in einer Unterrichtsstunde, im Lauf eines Jahres, im Lauf der folgenden Jahre.
Arbeitsmittel, die auf diese Weise entstehen, sind vollständig ausgearbeitet und dennoch entwicklungsfähig.
Claudine Larcher (Mapmonde Nr. 24, September 2003)
Letzte Aktualisierung: 29.11.2023