Biodiversität macht Schule! – wissenschaftliche Hintergründe
Autoren: | |||
Publikation: | 12.12.2012 | ||
Lernstufe: | 3 | ||
Übersicht: | Wissenschaftliche Grundlagen rund um das Thema Biodiversität – für den Unterricht in der Grundschule und in Klasse 5/6 | ||
Herkunft: | La main à la pâte, Paris | ||
Bewertung: |
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1. Der Begriff der Biodiversität
Die Bezeichnung "Biodiversität" wird gewöhnlich dem berühmten amerikanischen Biologen Edward O. Wilson [1] zugeschrieben. Der Bericht vom ersten amerikanischen Forum zur biologischen Vielfalt (1986) trug allerdings den Titel "Biodiversity", während der von Wilson favorisierte Titel "Biological Diversity" lautete. Wilson veröffentlichte die Beiträge zur Konferenz in einem Sammelband [2], der großen Anklang fand und zur Verbreitung des Neologismus beitrug. Im deutschsprachigen Raum fand das Wort "Biodiversität" nach dem Erdgipfel in Rio 1992 eine schnelle Verbreitung. Der Artikel 2 der Biodiversitätskonvention (ausgehandelt auf dem Erdgipfel von Rio, auch als "Übereinkommen über die biologische Vielfalt" bekannt) definiert Biodiversität wie folgt [3]:
"Biologische Vielfalt ist die Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, darunter unter anderem Land-, Meeres- und sonstige aquatische Ökosysteme und die ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören; dies umfasst die Vielfalt innerhalb der Arten und zwischen den Arten und die Vielfalt der Ökosysteme."
1.1 Die Biosphäre: eine beachtliche Diversität
Der Begriff umfasst die unendliche Vielfalt des Lebens in Raum und Zeit: die Vielfalt der "Biosphäre". Die Erkenntnis dieser Vielfalt ist nicht neu. Schon Aristoteles schrieb um 343 vor unserer Zeit eine "Geschichte der Tiere". Es war einer der ersten Versuche, die Lebewesen zu beschreiben und zu klassifizieren, wobei er allerdings die Pflanzen stiefmütterlich behandelte und sie nur ganz pauschal beschrieb. Zu Beginn unserer Zeitrechnung ließ sich Plinius der Ältere bei der Niederschrift der 37 Bände seiner "Naturgeschichte" weitgehend vom Werk Aristoteles' inspirieren. Er hatte den Ehrgeiz, die ganze bekannte Welt, nicht nur die Lebewesen, zu beschreiben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts zählte der englische Naturforscher John Ray in seiner Historia plantarum 6000 Pflanzenarten und schätzte die Zahl der Insekten auf 10 000 bis 20 000.
1.2 Nur eine geringe Zahl der lebenden Arten ist bisher identifiziert
Heute sind etwa 2,16 Millionen verschiedene Arten identifiziert und benannt, davon über eine Million Insektenarten (Stand: 2022) [4]. Wissenschaftler vermuten, dass die tatsächliche Anzahl der lebenden Arten bei 8,7 Millionen liegt [5], es also vier Mal mehr Arten gibt als bisher bekannt. Des Weiteren ist die Anzahl aller, zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte unseres Planeten vorhandenen Arten und Ökosysteme um Größenordnungen höher, denn im Lauf der geologischen Zeitalter sind stets neue Arten aufgetaucht, haben sich verbreitet und sind wieder verschwunden. Der Ursprung des Lebens auf der Erde wird auf etwa 3,5 Milliarden Jahre geschätzt, Zeit genug, eine beträchtliche Anzahl neuer Arten und Ökosysteme entstehen (und wieder vergehen) zu lassen. Die gegenwärtige Anzahl vorhandener Arten wird auf maximal 1% der seit dem Ursprung des Lebens jemals da gewesenen geschätzt.
2. Der Begriff der Art
Lamarck [6] vermerkte 1809 in seiner Philosophie zoologique: Mit voranschreitender Bestandsaufnahme der Lebensformen "[...] bringt uns die Definition dessen, was eine Art ist, in immer größere Schwierigkeiten". Man kann stundenlang über den Artbegriff debattieren; die Vielzahl der Definitionen in der Literatur und die zahlreichen Gegenbeispiele lassen jede einzelne Definition unpräzise erscheinen. Und dies aus gutem Grund: Die Art entspricht einer rein menschlichen Vorstellung, die uns "erlaubt über das zu sprechen, was wir in der Natur beobachten", während die Natur solche klar begrenzte "Schubladen" eben nicht aufweist.
2.1 Die biologische Definition der Art
Im Allgemeinen verwendet man vor allem den biologischen Artbegriff, den Ernst Mayr [7] in den 1940er Jahren vorgestellt hat. Einfach ausgedrückt bezeichnet eine Art alle Individuen, die sich untereinander fortpflanzen können, und deren Nachkommen das auch können. Zum Beispiel kann ein Grasfrosch (Rana temporaria) mit einem anderen Grasfrosch Junge haben, eine Erdkröte (Bufo bufo) mit einer anderen Erdkröte usw. Aber ein Grasfrosch kann mit einer Erdkröte keine Nachkommen haben. Beide Arten besitzen allerdings gemeinsame Merkmale, so dass man sie – mit anderen Arten, die die gleichen Merkmale aufweisen – in einer übergeordneten Gruppe zusammenfasst: die Ordnung der Anura oder Froschlurche. Die Froschlurche wiederum bilden, zusammen mit anderen Ordnungen, die Unterklasse der Lissamphibia bzw. die Klasse der Amphibien oder Lurche.
Das Leben kennt keine harten Grenzen. Zwischen den Arten, die wir nach durchaus stichhaltig scheinenden Kriterien definieren, benennen und bearbeiten, bestehen tatsächlich sehr oft Reproduktionsschwellen (also die Unfähigkeit, Gene zu mischen), es gibt aber auch zahlreiche Fälle von Hybriden. Das von den Kindern oft angeführte Beispiel sind Liger und Tigon, halb Löwe, halb Tiger.
Es ist alles eine Frage des Maßstabs. Richtet man die Aufmerksamkeit auf zwei weit voneinander entfernte Arten, zum Beispiel auf Löwe und Frosch, ist die Unfähigkeit Junge zu zeugen ziemlich offensichtlich. Handelt es sich dagegen um einander nahe, oder gar sehr nahe Arten, wird die Sache weniger klar. Die Zeugung von Hybriden ist in einigen Fällen möglich, und manchmal sind sogar die Jungen fruchtbar.
Manchmal liegen die die Reproduktion verhindernden Barrieren zwischen zwei Arten rein im unterschiedlichen Verhalten: Theoretisch und biologisch könnten sie sich untereinander fortpflanzen (man kann zum Beispiel In-vitro-Befruchtungen vornehmen), aber in der Natur halten sie sich voneinander fern, selbst wenn sie am gleichen Ort leben.
Abb. 1: Ein Teichfrosch (Pelophylax esculentus)
Foto: Leo Bogert,
Wikimedia Commons
(CC BY-SA 3.0)
Zum Vergleich sei die Entfernung zwischen Löwe und Frosch etwa die zwischen Hamburg und Peking. Wir befinden uns eindeutig an zwei verschiedenen Orten. Im Gegensatz dazu sind Seefrosch (Pelophylax ridibundus) und Kleiner Wasserfrosch (Pelophylax lessonae) nur einen Schritt voneinander entfernt. Befinden wir uns noch am selben Ort oder nicht? "Ja und nein". Nein, weil es zwischen den beiden Arten ganz offensichtlich Unterschiede gibt. Ja, weil sie Hybride erzeugen können und auch andauernd erzeugen: Frösche, die wir als Teichfrösche (Pelophylax esculentus) bezeichnen und die sich selbst auch wieder fortpflanzen können (und das auch mit den beiden Arten, deren Hybriden sie sind).
2.2 Andere Definitionen der Art
Der morphologische Artbegriff, nach dem zusammengefasst wird, was sich ähnlich ist ("eine Art fasst alle Individuen zusammen, die sich sowohl untereinander ähneln als auch ihren Eltern gleichen"), führt oft in die Irre. Widersprüche stellen sich zum Beispiel bei dem Phänomen der "konvergenten Evolution" heraus – das heißt bei Ähnlichkeiten der Lebensweise und der Umgebung. Das Paradebeispiel für konvergente Evolution sind die weit voneinander entfernten Arten Schmetterling und Kolibri.
Es gibt weitere Definitionen der Art: zum Beispiel diejenige, die sich auf ökologische Kriterien beruft, und seit zwanzig Jahren auch diejenige, die genetische Merkmale berücksichtigt (damit sind allerdings noch längst nicht alle Probleme ausgeräumt!).
Man sollte in jedem Fall immer im Kopf behalten, dass die verschiedenen Artbegriffe vor allem sprachliche Begriffe sind, selbst wenn die Taxonomen, die sich diese Begriffe ausdenken (und immer wieder ausdenken), sich alle Mühe geben, sie so stichhaltig wie möglich an die biologischen Gegebenheiten anzupassen.
Und was sagt man den Schülern?
Es ist immer wieder erstaunlich, wie gezielt und intuitiv Kinder die konzeptuellen Widersprüche der verschiedenen Artbegriffe erkennen. Viel besser als Erwachsene, die gern allzu schnell als etablierte Fakten ansehen, was ihnen "sinnvoll" scheint. Je nach Niveau der Klasse sollte man sehen, wie weit die Diskussion geführt werden kann, aber sie ist, wenn man sich die Zeit nimmt, in jedem Fall möglich.
2.3 Und was ist mit dem Begriff Rasse?
Unter den Individuen einer Art (die miteinander Nachkommen haben können) beobachtet man eine morphologische Vielfalt. Eine Unterart ist eine Gruppe von Individuen, die eine Zeit lang vom Rest der Art (im Allgemeinen geografisch) getrennt sind und eigene morphologische Merkmale entwickeln. Wenn die Trennung lang genug andauert, so dass sich die Unterschiede häufen, kommt es zur Artentrennung, das heißt zu einer genetischen Verschiedenheit, die am Ende die Reproduktion zwischen ursprünglicher und veränderter Art verhindert. Falls die Barriere wieder fallen sollte, kann sich die Unterart mit der ursprünglichen Population mischen. Es kann gelegentlich auch passieren, dass sich die Unterart mit der Zeit wieder in der ursprünglichen Art auflöst.
Die Kinder haben keine Schwierigkeit, nach dem Kriterium "können Junge kriegen", alle Menschen als zu ein und derselben Art gehörig zu betrachten. Es steht dem Lehrer frei, die Frage der "menschlichen Rassen", falls sie gestellt werden sollte, im Licht obiger Erläuterungen zu diskutieren oder nicht. Er kann auf jeden Fall betonen, dass der Ausdruck Rasse für Haustierarten gebraucht wird und schon deshalb bei Menschen unangebracht ist.
2.4 Die binäre Nomenklatur
Auch wenn die Definition der Art sich im Lauf der Zeit gewandelt hat – an der Linné'schen Nomenklatur, der sogenannten binären Nomenklatur, wurde festgehalten. Ihr zufolge wird jedes Lebewesen mit einem lateinischen Doppelnamen bezeichnet, der gewöhnlich kursiv gedruckt erscheint: ein Name für die Gattung, groß geschrieben, gefolgt vom klein geschriebenen Namen der Art. So lautet zum Beispiel die Bezeichnung für die Hauskatze Felis catus, die des Gemeinen Regenwurms Lumbricus terrestris. In der Gattung werden die nah verwandten Arten zusammengefasst, das heißt diejenigen, die vom nächsten gemeinsamen Vorfahren abstammen.
Früher beruhte der Gattungsbegriff auf Kriterien morphologischer Ähnlichkeiten. Heute weiß man, dass ähnlich aussehende Lebewesen verschiedenen Arten angehören können, was sich mit Hilfe der Genetik feststellen lässt. Man weiß aber auch, dass innerhalb einer Art eine große genetische Vielfalt herrschen kann. Sinnvollerweise sollte der Begriff der Art, gleich von der Grundschule an, mit den Kriterien Abstammung und Fruchtbarkeit der Individuen verbunden werden und nicht mit Ähnlichkeitskriterien, die nicht stichhaltig sind (Sexualdimorphismus, Larven- und Erwachsenenstadium, usw.). Ein sicherer Umgang mit dem Begriff der Art ist absolut wichtig, wenn es um Fragen der Biodiversität geht: geschützte Arten identifizieren, Ernährungsweisen herausfinden, Nahrungsnetze erstellen, die Stellung des Menschen in der Natur begreifen, den Zustand der Biodiversität evaluieren, Naturräume schützen usw. Zumal der Begriff in den Medien gern falsch oder in verkürzender Weise verwendet wird.
Sprachliche Verwirrungen
Die geläufigen Tiernamen bezeichnen in den seltensten Fällen eine einzige Art. Die Namen "Frosch", "Kröte", "Schwalbe", "Regenwurm" usw. stehen jeweils für mehrere unterschiedliche Arten. Auch das männliche oder weibliche Geschlecht der gewöhnlichen Tiernamen kann zu Unsinn führen, so etwa in Sätzen wie "der Frosch ist das Männchen der Kröte", "die Eule ist das Weibchen des Kauzes". Natürlich gibt es in jeder Art von Fröschen, von Kröten, von Eulen und von Käuzen Männchen und Weibchen.
Abb. 2: Ein Streifenkauz (Stryx varia)
Foto: Mdf,
Wikimedia Commons
(CC BY-SA 3.0)
3. Die Biosphäre besteht aus Ökosystemen
Lebewesen haben die meisten Bereiche des Planeten besiedelt, auch die unwirtlichsten wie Wüsten, extrem heiße oder extrem salzige Gewässer. Lebewesen sind abhängig von einer Vielzahl anderer Lebewesen sowie von der unbelebten Umgebung – Boden, Wasser, Licht, Klima. Der Wissenschaft, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen zueinander und zu ihrer Umgebung beschäftigt, hat der deutsche Biologe Ernst Haeckel 1866 den Namen Ökologie gegeben, abgeleitet von den griechischen Wörtern oikos (Haus, Habitat) und logos (Rede).
3.1 Was ist ein Ökosystem?
In der Ökologie werden die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und den verschiedenen Umweltfaktoren untersucht. Dabei werden sowohl die abiotischen (Temperatur, Wasser, Licht, Boden usw.) als auch die biotischen Umweltfaktoren untersucht, das heißt solche, an denen Lebewesen beteiligt sind. Die Gesamtheit der Lebewesen einer bestimmten Umgebung bildet mit ihr einen funktionalen Zusammenhang, dessen Bestandteile – die Lebewesen und die abiotischen Faktoren – miteinander wechselwirken. Für solch eine "Gemeinschaft" hat der englische Botaniker Arthur Tansley 1935 den Begriff Ökosystem als ökologische Grundeinheit vorgeschlagen. Für eine Umgebung und ihre charakteristischen Bedingungen hat Tansley die Bezeichnung Biotop geprägt. Und die Gesamtheit der Lebewesen in einem Biotop wird Biozönose genannt. Demgemäß kann man schreiben:
Ökosystem = Biotop + Biozönose
Es gibt eine Vielzahl von Ökosystemen, zum Beispiel Wiese, Wald, Korallenriff, Bach, landwirtschaftliches Ökosystem (Agrarökosystem), städtisches Ökosystem usw. Jedes Ökosystem weist charakteristische, ihm eigene, abiotische Faktoren und Lebewesen auf.
3.2 Ökosysteme verändern sich ständig
In dem einfachen Wort Ökosystem verbergen sich komplexe und sehr unterschiedliche Wirklichkeiten. Zum einen sind die geografischen Grenzen eines Ökosystems manchmal schwer festzustellen, und sie können sich auch mit der Zeit ändern. Zum anderen ist ein gegebenes Ökosystem oft Teil eines größeren Gebietes, das aus mehreren verschiedenen Ökosystemen besteht und als ökologischer Komplex bezeichnet wird. Außerdem können Ökosysteme neben denen der Jahreszeiten auch noch anderen zeitlichen Veränderungen unterliegen (flutbedingte Wasserstände, temporäre Wasserläufe und Tümpel, Überschwemmungen, Dürre, Sturm usw.), die sich auf die Verteilung der Lebewesen auswirken. Wenn ein Ökosystem im Lauf der Zeit zu einem Gleichgewichtszustand – dem Klimaxstadium – gekommen ist, kann dieser leicht wieder zerfallen, falls das System, ganz besonders auch durch menschliche Einwirkung, gestört wird.
Die Lebewesen unterhalten vielfältige Beziehungen zu ihrer Umgebung: Die Umwelt wirkt auf die Lebewesen, und umgekehrt wirken diese auch auf ihre Umgebung. Zum Beispiel hat die biologische Aktivität der Lebewesen (Fotosynthese, Gärung, Atmung) seit dem Auftauchen von Leben vor etwa 3,5 Milliarden Jahren die Atmosphäre des Planeten von Grund auf verändert (sie hat insbesondere ihren Sauerstoffgehalt fortwährend vergrößert) und zur Bildung der Böden beigetragen. Ein Beispiel aus neuester Zeit ist die seit dem Beginn der Industrialisierung zunehmende Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre. Dieser durch die Menschen versursachte Treibhauseffekt hat einen entscheidenden Einfluss auf die Klimaentwicklung.
Abb. 3: Blätter des wilden Weins (Vitis vinifera subsp. sylvestris)
Foto: Jenny Schlüpmann
3.3 Die Ökosysteme hängen alle von einer Energiequelle ab: der Sonne
Charakteristisch für Ökosysteme sind vor allem ihre Nahrungsnetze. Die komplexe Vernetzung der Nahrungsweisen unter den Lebewesen ist durch einen ständigen Materiefluss gekennzeichnet: Jede Art kann der Ernährung einer oder mehrerer anderer Arten dienen. Mit wenigen Ausnahmen – wie den hydrothermalen Quellen der Tiefsee (Schwarze und Weiße Raucher) – sind alle Ökosysteme von der gleichen Energiequelle abhängig: vom Sonnenlicht. Das, was unter den Lebewesen als Nahrung weitergegeben wird, ist organische Materie, die durch Fotosynthese erzeugt wird. Bei der Fotosynthese wird in den chlorophyllhaltigen Lebewesen (Pflanzen, Algen, Phytoplankton) mit Hilfe der Energie des Sonnenlichts Kohlenstoffdioxid und Wasser in organische Materie umgewandelt. Diese organische Materie ist die einzige Materie- und Energiequelle der Ökosysteme.
3.4 Autotrophie und Heterotrophie
Da sie sich von mineralischer Materie ernähren, werden die chlorophyllhaltigen Organismen als autotroph bezeichnet (vom griechischen autos = selbst und trophe = Nahrung). Und weil sie der Ursprung der organischen Materieflüsse in den Ökosystemen sind, bezeichnet man sie auch als Primärproduzenten. Alle anderen Lebewesen sind heterotroph (vom griechischen heteros = das andere und trophe = Nahrung) und werden als Konsumenten bezeichnet. Aber auch sie erzeugen organische Materie, die anderen Konsumenten als Nahrung dienen kann, weshalb auch sie als Produzenten zu betrachten sind. Es handelt sich um Sekundärproduzenten, wenn sie sich von Primärproduzenten ernähren, um Tertiärproduzenten, wenn Sekundärproduzenten ihre Nahrung bilden usw. Bestimmte Mikroorganismen können Abfälle und Kadaver in mineralische Materie umsetzen und werden folglich als Zersetzer (auch Destruenten) bezeichnet.
Bei den zwischen verschiedenen Arten eines Ökosystems bestehenden Beziehungen geht es jedoch nicht nur um die Ernährung. Es bestehen auch Beziehungen im Zusammenhang mit Schutz, Transport und Fortpflanzung. So sind die meisten Blütenpflanzen auf die Pollenübertragung durch Insekten angewiesen.
3.5 Die biogeochemischen Zyklen
Die aus der Mineralisierung organischer Materie hervorgehenden Substanzen – wie Kohlenstoffdioxid, Nitrate oder Ammoniumverbindungen – werden wieder in den Kreislauf aufgenommen, wenn die chlorophyllhaltigen Pflanzen, die Primärproduzenten, sie absorbieren. Der Kohlenstoff – wie auch die anderen chemischen Elemente, aus denen sich die organische Materie zusammensetzt – zirkuliert in den Ökosystemen in Form von verschiedenen molekularen Verbindungen (Kohlenstoffdioxid, Zucker, Proteine usw.). In seinen chemischen Umwandlungen wandert der Kohlenstoff von einem Reservoir ins andere: So gelangt das Kohlenstoffdioxid aus dem Reservoir "Atmosphäre" in das Reservoir "Biosphäre", wenn es in der Fotosynthese zur Erzeugung organischer Materie eingesetzt wird. Die verschiedenen chemischen Elemente, die zwischen den Reservoirs zirkulieren, werden immer wieder in den Kreislauf eingebracht, man spricht vom biogeochemischen Kreislauf.
Die gesamte lebende Materie wird Biomasse genannt, aber auch die tote organische Materie spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Die Menge an Biomasse schwankt erheblich je nach Ökosystem, sie hängt hauptsächlich von den im Biotop herrschenden Bedingungen ab. Man schätzt ihre Menge auf ca. 200 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar (tC/ha) in den tropischen Regenwäldern, auf ca. 50 tC/ha in Wäldern der warmtemperierten Zone, ca. 5 tC/ha in Grasland und < 1 tC/ha in der Wüste [8]. Ist ein Ökosystem im Gleichgewicht, so bleibt die Biomasse der drei Kategorien von Lebewesen – Primärproduzenten, Verbraucher und Zersetzer – ungefähr konstant.
Abb. 4: Vegetationstypen mit unterschiedlicher Biomasse (Bildnachweis)
3.6 Der Begriff der ökologischen Nische
In einem Ökosystem hat jede Art einen bestimmten Platz und eine bestimmte Rolle. Eine Art findet im Ökosystem ihre Nahrungsquellen und ihr Habitat, geht in ihrem eigenen Rhythmus ihren Tätigkeiten nach und hat unterschiedliche Beziehungen zu anderen Arten des Ökosystems. Die einzigartige Stellung und Rolle einer gegebenen Art im Ökosystem bezeichnet man als ihre ökologische Nische. Zwei unterschiedliche Arten können nicht die gleiche ökologische Nische besetzen: Wenn zwei Arten um eine Nische konkurrieren, überlebt am Ende nur eine von beiden. Deshalb sollte man es auch unbedingt vermeiden, fremde Arten – sogenannte invasive Arten – in ein Ökosystem einzuführen: Wenn die fremde Art mit den einheimischen Arten in einer ökologischen Nische konkurriert, laufen Letztere die Gefahr unterzugehen. So hat in Frankreich die Einführung des Amerikanischen Flusskrebses nahezu zum Untergang der einheimischen Arten geführt. Genauso kam es durch das Aussetzen von Rotwangen-Schmuckschildkröten aus Florida zur Konkurrenz mit der Europäischen Sumpfschildkröte, die seither vom Aussterben bedroht ist.
4. Die Biodiversität als Folge der Evolution
Die Evolutionstheorie zählt zu den Grundlagen der modernen Wissenschaft. Sie ist derart fruchtbar, dass mit ihr die meisten Eigenschaften der Welt der Lebewesen eine Erklärung finden:
- Sie lässt uns die Geschichte des Lebens verstehen, hauptsächlich durch die Erschließung des Archivs, das die Fossilien darstellen, aber auch anhand genetischer Analysen.
- Sie erklärt, warum das Leben sich einerseits – vor allem biochemisch, genetisch und physiologisch gesehen – durch eine tiefgründige Einheitlichkeit auszeichnet und gleichzeitig eine außerordentliche Vielfalt aufweist: Bis heute wurden etwas 2,16 Millionen verschiedene Arten erfasst und beschrieben [4].
- Sie trägt zum Verständnis der geografischen Verbreitung der Lebewesen bei, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit.
4.1 Die biologische Evolution wird untermauert von zahlreichen übereinstimmenden Indizien
Die Wissenschaft verfügt heute über unabhängige Beweise aus Geologie, Paläontologie und Biologie, dass das Leben eine etwa 3,5 Milliarden Jahre lange Geschichte hat [9], und dass alle Lebewesen sich im Laufe geologischer Zeiträume aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt haben. Bisher wurden diese grundlegenden Vorstellungen vom gemeinsamen Ursprung und der Evolution der Lebewesen durch kein einziges wissenschaftliches Ergebnis in Frage gestellt. Die Evolutionstheorie gilt daher in der Welt der Wissenschaft auch als unstrittig. Was nicht heißt, dass nicht einzelne Aspekte der Evolution nach wie vor Gegenstand von Forschung und Diskussion bleiben. Die Forschung liefert regelmäßig genauere Einzelheiten oder berichtigt ihre Ergebnisse.
Eine der Konsequenzen der Evolution ist die, dass Arten umso enger miteinander verwandt sind, je jünger ihr gemeinsamer Vorfahre ist. Daher werden die Lebewesen heute auf Grundlage der phylogenetischen Systematik klassifiziert, das heißt: Man klassifiziert Lebewesen nach ihrem Verwandtschaftsgrad, den man anhand der Merkmale erkennt, die sie miteinander gemein haben. Der Evolutionsbegriff ist in der Biologie so zentral geworden, dass Theodosius Dobzhansky [10], einer der bedeutendsten Evolutionsspezialisten, 1973 schrieb: "Nothing in biology makes sense except in the light of evolution" ("Nichts in der Biologie hat einen Sinn außer im Licht der Evolution".)
4.2 Alle heutigen Lebewesen stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab
Die Biologen sind übereingekommen, die Lebewesen in drei große Gruppen, Domänen genannt, zusammenzufassen: Die Bakterien, die Archaeen (Urbakterien) und die Eukaryoten (Lebewesen, deren Zellen einen Zellkern besitzen). Diese drei Gruppen stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, LUCA (Last Universal Common Ancestor = letzter universeller gemeinsamer Vorfahre), und bilden die drei Äste des Stammbaumes des Lebens. Alle Lebewesen, die heutigen sowie längst ausgestorbene, gehören zu einem dieser drei Äste. Unter den Eukaryoten findet man einzellige und mehrzellige Lebewesen. Zu Letzteren gehören die Pflanzen, verschiedene Algenarten, die Tiere und die Pilze. Die Bakterien, Archaeen und alle einzelligen Lebewesen sind mit bloßem Auge nicht zu sehen, man bezeichnet sie daher auch als Mikroorganismen. Trotz ihrer mikroskopischen Größe spielen sie eine sehr wichtige Rolle in den Ökosystemen, und man schätzt, dass sie etwa die Hälfte der gesamten Biomasse (Masse aller Lebewesen) ausmachen.
Abb. 5: Petrischale mit einer Schimmelpilzkultur (Penicillium
chrysogenum)
Foto: Crulina 98,
Wikimedia Commons
(CC
BY-SA 3.0)
4.3 Der Begriff der natürlichen Selektion
Charles Darwin [11] war der Erste, der das Phänomen der natürlichen Selektion beschrieb. Die natürliche Selektion ist einer der Mechanismen, die für die Evolution der Arten verantwortlich ist. Sie erklärt, wie sich Arten im Laufe der Generationen an die Lebensumgebungen angepasst haben.
Das Prinzip der Evolution nach Ernst Mayr:
Merkmale (morphologische, physiologische oder Verhaltensmerkmale), die das
Überleben und die Fortpflanzung der Lebewesen begünstigen, häufen sich in
einer Population von einer Generation zur nächsten. Das ist nicht weiter
erstaunlich, denn die Träger dieser Merkmale haben mehr Nachkommen (weil
sie weniger schnell sterben, weil sie sich besser ernähren können), und
diese Nachkommen erben diese Merkmale ebenfalls.
Zum besseren Verständnis
- Innerhalb einer Art gibt es eine große Vielfalt an Individuen mit den verschiedensten Merkmalen. Diese haben sie von den Eltern geerbt: Sie tauchen in zufälliger Mischung bei den Nachkommen auf. Manchmal, und wiederum ganz zufällig, entsteht eine "Mutation", das heißt ein völlig neues Merkmal.
- In einer gegebenen Umgebung führen die Individuen einer Art ihr Leben: Sie werden geboren, ernähren sich, wachsen, pflanzen sich fort und sterben. Je mehr sie sich fortpflanzen, umso mehr werden sie ihre spezifischen Merkmale weitergeben. Diejenigen, die länger leben, werden sich verstärkt fortpflanzen können (sie haben dazu mehr Zeit), das Gleiche gilt für die Stärkeren (sie setzen sich besser durch).
- In dieser Umgebung sind, unter den Bedingungen des Habitats, die Träger bestimmter Merkmale gegenüber anderen Individuen begünstigt ("Selektionsdruck"). Weiße Schmetterlinge auf weißen Bäumen werden seltener von Vögeln gefressen als braune, sie leben länger; langhalsige Gazellen können sich in einer Gegend mit hohen Sträuchern leichter ernähren als ihre Artgenossen mit kurzen Hälsen und sind folglich bei besserer Gesundheit.
- Derart begünstigte Individuen sterben nicht so schnell (sie werden eher ihren Räubern entkommen, weil sie sich besser ernähren konnten) und haben daher mehr Nachkommen. Ihre Jungen werden die günstigen Merkmale erben und ihrerseits in dieser Umgebung begünstigt sein. Im Lauf einiger Generationen werden die günstigen Merkmale in der Population überwiegen. Man spricht dann von "Adaptation" (evolutionärer Anpassung) und es liegt ein Fall von natürlicher Selektion vor.
Anmerkung Darwin war der Begründer der Evolutionstheorie. Seither haben jedoch viele Wissenschaftler diese Theorie fortlaufend verfeinert (Ernst Mayr, Richard Dawkins, ...). Der Name Darwin ist für die Wissenschaftsgeschichte bedeutend, man sollte allerdings nicht von "Darwin'scher Theorie" sprechen, ebenso wenig wie bei der Gravitation von "Newton'scher Theorie" (auch hier sind Jahrhunderte vergangen, in denen die Theorie durch andere Wissenschaftler weiterentwickelt wurde, unter anderem durch Albert Einstein).
Einige zentrale Aspekte der Evolutionstheorie und verbreitete Vorstellungen
1) Eine Adaptation bezieht sich immer auf eine gegebene Umgebung. Wenn diese sich ändert, stehen die Zeiger wieder auf null. Zum Beispiel sind die Lungen eine großartige evolutionäre Anpassung an eine Luftumgebung. Dagegen sind sie im Wasser eher ein Nachteil.
Verbreitete Vorstellung Nr. 1:
Es ist nicht sinnvoll zu sagen, eine Art sei "besser angepasst": Sie kann das
erstens nur sein in Bezug auf eine andere Art und zweitens nur in einer
"gegebenen Umgebung". Der Mensch ist im Wald besser angepasst als ein
Fisch. Aber in einem Teich ist der Fisch besser angepasst als der Mensch. Der
Satz "der Mensch ist am besten angepasst" ist sinnlos.
2) Bei der natürlichen Selektion spielt der Zufall eine entscheidende Rolle. Die innerhalb einer Art vorhandenen Merkmale entstehen (durch Mutation) und vermischen sich (im Lauf der Generationen) zufällig. Diese Merkmale sind vor jeder Selektion vorhanden, sie existieren in einer Population auch schon, bevor der Einfluss der Umwelt ins Spiel kommt. Die lang- und die kurzhalsigen Gazellen gibt es in der Art, bevor diese auf eine an Buschwerk und Bäumen reichen aber an Gräsern armen Umgebung trifft.
Verbreitete Vorstellung Nr. 2:
Eine Art passt sich nicht an, um einer Veränderung der Umgebung zu
begegnen. Sie besitzt in der Reihe ihrer verfügbaren Merkmale bereits
solche, die der Art auch in der veränderten Umgebung ihre Fortdauer sichern;
die Umweltveränderung ändert nur das zahlenmäßige Verhältnis der
Individuen mit dem vorteilhaften Merkmal (das der veränderten Umgebung besser
angepasst ist).
3) Nach einigen Generationen werden die in der gegebenen Umgebung vorteilhaften Merkmale überwiegen. Aber auch Individuen ohne diese Merkmale wird es weiterhin geben, sie werden nur seltener vorkommen. Wenn sich die Umgebung erneut ändert, werden sie vielleicht eines Tages die Begünstigten sein. Bei Umweltveränderungen ist die Vielfalt der Individuen einer Art ein wertvolles Reservoir.
Verbreitete Vorstellung Nr. 3:
Bei der natürlichen Selektion handelt es sich nicht um ein Gesetz des
Stärkeren, das die am wenigsten angepassten Individuen aussiebt. Es ist
eher eine Frage des Fortpflanzungserfolges. Begünstigte zeugen mehr
Nachkommen; sie haben die Merkmale, die in der Population überwiegen werden.
Aber auch weniger begünstigte Individuen sterben nicht aus. Sie existieren
auch (meistens) weiterhin – in kleiner Zahl – und sind eine
Art Versicherungsschutz bei eventuellen Veränderungen der Umwelt.
4) Wenn ein Ereignis (meistens geografischer Art, zum Beispiel ein Bergsturz, die Zerstückelung eines Waldes, die Öffnung einer Schlucht, ...) die Population einer Art in zwei Teile zerbrechen lässt, können die beiden Populationen zwei verschiedenen Umgebungen ausgesetzt sein (zum Beispiel einem kälteren Klima auf einer Seite des Berges und einem wärmeren auf der anderen). Die vorteilhaften Merkmale werden in beiden Populationen nicht die gleichen sein, weil die Umgebungen verschieden sind. Im Lauf der Generationen werden die beiden Populationen verschiedene Wege einschlagen. Auf der einen Seite des Berges (auf der kälteren) werden die langhaarigen mehr Junge haben und dieses Merkmal wird schließlich überwiegen. Auf der anderen Seite werden die kurzhaarigen Individuen in der Überzahl sein.
Nach langer Zeit und durch zufällige Mutationen werden die beiden Arten sich so sehr unterscheiden, dass zwischen den Individuen der beiden Arten keine Fortpflanzung mehr stattfinden kann, auch wenn sie wieder in einer Umgebung vereint sind. Es liegt ein Fall von Speziation (Artbildung) vor: die Entstehung von zwei unterschiedlichen Arten. Dies ist einer der Mechanismen der Evolution.
Verbreitete Vorstellung Nr. 4:
Die Evolution ist zwar zum großen Teil eine Folge von Umweltveränderungen,
aber es spielen auch andere Mechanismen eine Rolle, zum Beispiel die "sexuelle
Selektion": Wenn die Weibchen Männchen mit großen Federn bevorzugen (bei
Pfauen zum Beispiel), werden Letztere mehr Nachkommen haben und ihre Merkmale
verstärkt weitergeben (auch wenn sie keinerlei Vorzüge in Bezug auf die Umwelt
bringen. Das Gegenteil ist hier übrigens der Fall: Sie haben Mühe, sich zu
bewegen, und entkommen ihren Verfolgern schlechter). Nach einigen Generationen
wird die Mehrzahl der männlichen Pfauen große Federn haben.
Verbreitete Vorstellung Nr. 5:
Die Evolution hat nichts mit Fortschritt zu tun. Wie wir gesehen haben, ist
es allenfalls sinnvoll von einem Fortschreiten in Bezug auf eine gegebene
Umgebung zu sprechen, denn diese Umgebung hört nun einmal nicht auf, sich
zu ändern. Global betrachtet sind die Lebewesen mit der Zeit komplizierter
geworden. Bei Werturteilen ist jedoch Vorsicht geboten: Bei
Computerprogrammen ist das Beste dasjenige, das mit den wenigsten Operationen
eine Aufgabe erfüllt (also das unkomplizierteste). Seit Entstehung des Lebens
auf der Erde werden Lebewesen geboren, sie wachsen, zeugen Nachkommen und
sterben (alle erfüllen die gleichen Aufgaben), dabei ist ihr mehr oder
weniger komplizierter Aufbau irrelevant.
5) Aus den ersten vor etwa 3,5 Milliarden Jahren erschienenen einzelligen Organismen haben sich die heute auf der Erde lebenden Arten entwickelt: Das ist das Ergebnis der natürlichen Selektion.
Verbreitete Vorstellung Nr.6:
Alle Arten haben also eine gleich lange Evolution hinter sich: das Bakterium,
die Krake, der Farn, der Mensch, die Platane, das Protozoon, der Clownfisch.
Keine Art ist entwickelter als andere, da alle die gleiche Evolutionsdauer
durchlaufen haben. Das Wort entwickelt wird oft falsch gebraucht.
"Evolution" bedeutet Transformation, mit dem Wort verbindet sich kein
Werturteil. Häufig wird "höher entwickelt" gesagt, wenn "wertvoller" gemeint
ist ("wir sind doch schließlich höher entwickelt als Nacktschnecken und
Ameisen!"). Manchmal soll mit "höher entwickelt" auch "besser angepasst"
zum Ausdruck gebracht werden. Dabei wird nicht gesagt in Bezug auf was und in
welcher Umgebung. Unsere Auffassung von der Welt und der Biodiversität ist
sprachabhängig. Wir sollten also nicht sagen "der Mensch ist höher
entwickelt", sondern allenfalls "der Mensch ist besser an die Stadtumgebung
angepasst als die Nacktschnecke". Und da sich die Umgebung ständig ändert,
sollten wir hinzufügen "im Moment".
4.4 Einige wichtige Daten der Evolution
Im mittleren Silur, vor ungefähr 420 Millionen Jahren, entwickelten sich aus den Grünalgen die ersten Landpflanzen. Die ersten Vertreter waren wahrscheinlich Fadenalgen, die bei Ebbe bereits vorübergehend ohne Wasser überleben konnten. Im Laufe ihrer Evolution bildeten ihre Vegetationskörper differenzierte Gewebe aus, aus denen Organe wie Sprossachsen, Wurzeln und Blätter entstanden. Algen haben keine differenzierten Gewebe, ihr Vegetationskörper besteht aus lauter ähnlichen Zellen, die sich zu Fäden reihen oder flächige Gebilde hervorbringen. Einen solchen Vegetationskörper (ohne Sprossachse, Wurzeln und Blätter) nennt man Thallus oder Lager. Das Auftreten von Pflanzen stellte eine entscheidende Etappe in der Geschichte des Lebens dar. Sie veränderten die bis dahin rein mineralischen Böden auf den Kontinenten radikal. Die Böden beherbergten von nun an eine Mikrofauna, die dort Nahrung und Schutz vor dem Austrocknen fand.
Im Devon, vor ca. 400 Millionen Jahren – zu der Zeit tauchten die ersten Insekten auf –, haben sich offensichtlich zwei Linien von chlorophyllhaltigen Landpflanzen getrennt: die Moose und die Gefäßpflanzen (die Leitbündel für den Transport des Pflanzensafts besitzen). Die ersten Wirbeltiere mit vier Extremitäten (die Tetrapoda) erschienen vor etwa 370 Millionen Jahren. Die ersten Gefäßpflanzen, die Farne, erreichten ihr Verbreitungsmaximum vor etwa 300 Millionen Jahren, im Karbon. Dieses erdgeschichtliche Zeitalter verdankt seinen Namen der Tatsache, dass die Baumfarne zu der Zeit riesige Wälder bildeten, deren Fossilisation zu ausgedehnten Kohlevorkommen führte, die heute abgebaut werden. Gegen Ende dieses Zeitalters waren einige Wirbeltiere in der Lage, sich außerhalb des Wassers fortzupflanzen, sie begannen das Festland zu bevölkern. Das Aussterben der meisten Farne setzte bereits im Perm ein, vor etwa 200 Millionen Jahren.
Die Spermatophyten oder Samenpflanzen spalteten sich wahrscheinlich schon im Devon, vor etwa 400 Millionen Jahren, von den Farnen ab. Sie begannen jedoch erst viel später, vor ungefähr 100 Millionen Jahren, die Landflora zu dominieren – ungefähr zu der Zeit, als sich Vögel und Säugetiere voneinander abspalteten. Samenpflanzen konnten sich auch außerhalb des Wassers fortpflanzen (Pollentransport durch Wind und Tiere) und waren infolgedessen besser an die Luftumgebung angepasst. Die Samenpflanzen sind heute mit etwa 260 000 beschriebenen Arten die zahlreichste Gruppe unter den Pflanzen. Sie besetzen alle Habitate des Planeten mit Ausnahme der extremsten.
4.5 Die heutige Fauna
Die Fauna verteilt sich auf etwa dreißig Stämme. Ein Zweig oder Stamm (Phylum) ist definiert als die Gesamtheit der Lebewesen, die von einem gemeinsamen Vorfahren den gleichen Bauplan geerbt haben. Die paläontologischen Archive zeigen, dass all diese Stämme (Phyla) seit dem Kambrium vor 550 Millionen Jahren bestehen. Die Stämme, Unterstämme bzw. Klassen mit den zahlreichsten Tierarten sind (siehe Bildtafel 33 und [4], Stand 2022):
- die Wirbeltiere (Vertebrata) mit 74 420 Arten,
- die Krebstiere (Crustacea) mit 80 122 Arten,
- die Weichtiere (Mollusca) mit 113 813 Arten, und vor allem
- die Spinnentiere (Arachnida) mit 110 615 Arten,
- die Insekten mit mehr als 1 Million Arten.
Tier oder Pflanze? [12]
Pflanzen und Tiere sind entfernte Verwandte und haben einen sehr alten gemeinsamen Vorfahren. Dieser Vorfahre war, wie auch sie selbst, ein eukaryotisches Lebewesen. Eukaryoten bestehen aus einer oder mehreren Zellen, deren genetisches Material durch eine Membran geschützt ist; die Zellen besitzen einen Zellkern. Bei Prokaryoten dagegen (den Bakterien zum Beispiel) ist das genetische Material nicht von einer Membran umschlossen. Etwa gleichzeitig mit der Bildung der Eukaryoten, also sehr früh in der Evolutionsgeschichte, trennten sich diese in zwei Gruppen: das Tier- und das Pflanzenreich. Tiere und Pflanzen erwarben jeweils sehr spezielle Merkmale und entwickelten sich zu sehr unterschiedlichen Lebewesen.
a) Obwohl beide Eukaryoten sind und innere Organellen (Teile des Funktionsapparates der Zelle wie die Mitochondrien) besitzen, weisen tierische und pflanzliche Zellen große Unterschiede auf: Tier- und Pflanzenzelle sind beide von einer Membran umgeben. Die pflanzliche Zelle hat zusätzlich eine feste Wand aus Cellulose. Die Zelle ist formstabiler und weniger beweglich.
In der pflanzlichen Zelle befindet sich eine mit Flüssigkeit gefüllte Kammer, die Vakuole. Die pflanzliche Zelle enthält in ihrem Funktionsapparat etwas, das es in den tierischen Zellen nicht gibt: das Chloroplast, das Chlorophyll enthält und bei der Fotosynthese eine zentrale Rolle spielt (siehe weiter unten). Die grüne Farbe der Chloroplasten ist bei (fast) allen Pflanzen auch äußerlich und mit bloßem Auge gut zu erkennen.
b) Diese (morphologischen) Unterschiede spiegeln sich in den verschiedenen physiologischen Funktionen der Lebewesen wider. Es gibt Unterschiede bei der Fortpflanzungsweise, der Atmung und der Ernährung. Unser Augenmerk soll sich im Folgenden auf die Ernährung richten. Tiere und Pflanzen verfolgen bei der Ernährung unterschiedliche Strategien.
Tiere bewegen sich (bis auf Ausnahmen) und suchen ihre Nahrung – manchmal über Entfernungen von Tausenden von Kilometern. Fast immer besteht die Nahrung aus anderen Lebewesen. Tiere sind heterotroph, das heißt, sie brauchen biologische (organische) Materie, pflanzliche oder tierische, um heranwachsen und überleben zu können. Außerdem wachsen Tiere nicht ihr Leben lang.
Die Pflanzen gehen anders vor. Sie bleiben an einem Ort, an dem die für die Fotosynthese notwendigen Bedingungen gegeben sind. Ihre Ernährungsweise ist unabhängig von anderen lebenden Organismen. Pflanzen sind autotroph, sie bauen ihre organische Materie selbst auf und wachsen, indem sie Sonnenlicht, Wasser und mineralische Salze aus dem Boden und CO2 aus der Luft aufnehmen. Pflanzen wachsen ihr Leben lang.
Abb. 6: Buchenwald (Rotbuchen: Fagus sylvatica)
Foto: Willow,
Wikimedia Commons
(CC BY-SA 2.5)
c) Wie überall im Bereich des Lebendigen gibt es auch Ausnahmen. Zum Beispiel:
-
Fotosynthese bei nicht pflanzlichen Lebewesen, die eine Symbiose mit
pflanzlichen Zellen eingehen und manchmal sogar Fotosynthesegene in
ihr Genom einschleusen. Ein Beispiel ist die grüne
Meeresschnecke Elysia chlorotica, die im Brackwasser der
nordamerikanischen Atlantikküste vorkommt [13].
Abb. 7: Die Meeresschnecke Elysia chlorotica
Foto: Karen N. Pelletreau et al., Wikimedia Commons (CC BY 4.0) - Autotrophie bei Tieren, zum Beispiel bei den Meerwürmern der schwarzen Raucher, die ihre organische Materie aus chemischen Substanzen aufbauen, die sie aus dem Wasser der Tiefseequellen entnehmen.
- Tiere, die sich nicht bewegen und dem Grundsatz folgen: "An meinem Platz habe ich alles, was ich brauche, also bleibe ich hier und verschwende keine Energie". Zu dieser Kategorie gehören zum Beispiel sessile Filtrierer wie Schwämme, Korallen oder Muscheln. Sie sitzen an Felsen oder am Meeresboden fest und ernähren sich, indem sie schwebende Nahrungspartikel aus dem Meerwasser filtrieren.
- Pflanzen, die sich bewegen, wenn auch nicht fortbewegen: die Mimose zum Beispiel [14] (Mimosa pudica, auch Schamhafte Sinnpflanze oder "Rührmichnichtan", die sekundenschnell auf Umweltreize reagiert) oder die Sonnenblume, die ihren Blütenstand nach der Sonne ausrichtet.
-
Pflanzen, die ihre Nahrung durch den Verzehr tierischer Organismen
ergänzen (fleischfressende Pflanzen) oder gar gänzlich heterotrophe
Schmarotzerpflanzen (Phytoparasiten). Manchen Schmarotzerpflanzen ist
sogar ihr Chlorophyll abhanden gekommen – weil sie es nicht (mehr)
brauchen. Ein Beispiel hierfür ist die Nesselseide (Cuscuta
europaea, auch Europäische oder Hopfenseide genannt), die zu den
Windengewächsen gehört und sich um ihre Wirtspflanzen – Brennnessel
und Hopfen – windet und sich von ihnen ernährt.
Abb. 8: Nesselseide (Cuscuta europaea)
Foto: Michael Becker, Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Wie immer gibt es zwar die großen Schubladen, in die man alles, was die Natur uns bietet, einordnen kann, aber sie passen nicht immer. Lebewesen, die in einer gegebenen Umgebung gut funktionieren, werden mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Gene weiterverbreiten – selbst wenn bei der neuen Pflanze die Fotosynthese oder bei dem neuen Tier die Beweglichkeit auf der Strecke geblieben sind.
Wenn wir also unbedingt alles in Schubladen packen wollen (der menschliche Ordnungswahn!) und dabei durcheinander kommen, sollten wir einen Blick auf die Geschichte der beobachteten Lebewesen werfen und sie nicht vorschnell einordnen, schon gar nicht allein aufgrund ihrer Lebensweise. Eine Koralle (deren Zellen und Physiologie definitiv die eines Tieres sind – Korallen gehören zu den Nesseltieren) und eine Pfingstrose (eindeutig eine Pflanze) bewegen sich beide nicht. Aber hat ihre Unbeweglichkeit die gleiche Geschichte? War die Koralle schon immer unbeweglich oder handelt es sich um eine für sie vorteilhafte Neuerung, die eines Tages zufällig in der Reihe der evolutionsgeschichtlichen Vorfahren (die sich durchaus bewegten) auftauchte? Eine Klassifizierung ist letztendlich nur dann sinnvoll, wenn sie auch evolutionsgeschichtlich begründet ist.
4.6 Fossilien
Zahlreiche Lebewesen – insgesamt aber dennoch nur ein sehr kleiner Teil (der auf 0,01 bis 0,1% geschätzt wird) aller Lebewesen, die im Lauf der geologischen Zeitalter die Erde bevölkerten – haben fossile Spuren hinterlassen, in Stein aufgezeichnete Zeugnisse der Geschichte des Lebens. Ihre Untersuchung ergibt, dass über den ganzen Zeitraum der Erdgeschichte Arten verschwunden sind und neue auftauchten. Fossilien erzählen von ausgestorbenen Arten und zeigen, wie sich manche Arten in der Evolutionsgeschichte verändert haben: Sie sind Zeugen der Evolution. Die ältesten entdeckten Spuren des Lebens sind etwa 3,5 Milliarden Jahre alt [9]. Lebewesen tauchten also etwa eine Milliarde Jahre nach der Entstehung unseres Planeten auf.
Die geologische Zeitskala
Eine erste Unterteilung der geologischen Zeitskala ergab sich aus der relativen Altersbestimmung (ist dieser Boden, dieses Gestein jünger oder älter als jenes?). Historisch im Wesentlichen auf der Anwesenheit charakteristischer (schichtspezifischer) Fossilien beruhend, hat man die Periode der Erdgeschichte, in der die ersten Spuren des Lebens zu sehen sind, als Phanerozoikum bezeichnet (griech. phanerós = sichtbar und zoe = Leben). Mit der Entdeckung der Radioaktivität wurden schließlich Messverfahren entwickelt, mit denen das absolute Alter verschiedener Gesteine und damit die Aufeinanderfolge geologischer Zeitalter unabhängig von Fossilien bestimmt werden konnten. Das Phanerozoikum, das sich über etwa 550 Millionen Jahre erstreckt, wurde noch einmal unterteilt in Paläozoikum (Erdaltertum), Mesozoikum (Erdmittelalter) und Känozoikum (Erdneuzeit). Die Periode von der Bildung des Planeten bis zum Phanerozoikum wird Präkambrium genannt. Das Kambrium ist die erste Periode im Phanerozoikum. Am Anfang dieses Zeitalters, vor ungefähr 540 Millionen Jahren, traten zum ersten Mal die wichtigsten Stämme der heute bekannten Tiere auf.
Perioden mit Massenaussterben gefolgt von Perioden mit einer Diversifizierung der Arten
Fossilien einer bestimmten Art finden sich meist örtlich eng begrenzt in einer kleinen Zahl geologischer Schichten. Auch das zeigt wieder, dass Arten auftauchten, sich entwickelten und wieder ausstarben, wobei ihre Lebensdauer im Mittel zwischen einer und zehn Millionen Jahren lag. Die Anzahl fossiler Arten in den verschiedenen geologischen Schichten schwankt sehr und lässt auf Maxima der Vielfalt und Maxima des Aussterbens rückschließen. Die Geschichte des Lebens ist von mehreren Episoden massiven Aussterbens gekennzeichnet. Diese fallen – im Maßstab der Erdgeschichte – mit radikalen ökologischen Krisenperioden zusammen und haben die Biodiversität jedes Mal beträchtlich verringert. Sie sind in den "geologischen Archiven" anhand von paläontologischen und geologischen Diskontinuitäten leicht zu identifizieren und wurden zur Unterteilung der geologischen Zeitalter in verschiedene Perioden herangezogen. Die Krise am Übergang zwischen Erdmittelalter und Erdneuzeit ist einigermaßen bekannt, weil zu jener Zeit die Dinosaurier verschwanden. Weniger bekannt sind fünf weitere große Krisen in der Geschichte des Lebens. Die geologischen Archive zeigen, dass jeweils eine selektive Auslöschung von Arten stattfand, und die Krisen somit den Verlauf der Evolution beeinflussten.
Nach jeder Krise entstand jedoch im Laufe von einigen Millionen Jahren wieder eine neue Vielfalt. Und die Biodiversität vergrößerte sich beträchtlich, sei es durch Gruppen von Lebewesen, die schon vor der Krise da waren, sei es durch ganz neu entstandene Gruppen. Das Ausmaß der Biodiversität der Vergangenheit lässt sich allerdings nur sehr schwer anhand von Fossilien abschätzen. Sicher ist nur, dass die Krisenzeiten im Quartär zu einer starken Verminderung der Arten führten. Das liegt an der für dieses Erdzeitalter typischen Abfolge von Eiszeiten und Warmzeiten, vor allem aber an dem Auftauchen einer neuen Art, dem Menschen. Der Mensch beeinträchtigt viele Ökosysteme und zerstört zahlreiche lebende Arten. Unsere heutige Natur ist ganz wesentlich durch die explosionsartige Vermehrung der Biodiversität nach der Krise am Ende der Kreidezeit bestimmt, die insbesondere den Durchbruch für die Blütenpflanzen und die Säugetiere bedeutete. Viele Wissenschaftler fürchten nun, dass mit dem Klimawandel und dem rapiden Rückgang der Biodiversität eine sechste große Krise begonnen hat.
5. Schutz der Biodiversität: ein weltweites Anliegen
Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung ist die Erosion der Biodiversität der Wissenschaftlergemeinschaft schon länger bewusst: 1923 fand in Paris der erste internationale Kongress zum Thema Naturschutz statt und die IUCN, die Internationale Union für die Bewahrung der Natur (International Union for Conservation of Nature) wurde bereits 1948 gegründet. Den meisten Bürgern, Entscheidungsträgern und Regierungen wurde der Verlust der Biodiversität erst viel später bewusst.
5.1 Ein altes Anliegen
1971 veröffentlicht die UNESCO unter dem Titel "Der Mensch und die Biosphäre" ("Man and Biosphere") das erste Umweltprogramm zur Eindämmung des Biodiversitätsverlustes. Beim ersten Umweltkongress der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm erscheint die Biodiversität zum ersten Mal als ein internationales Anliegen und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP: United Nations Environment Programme) erblickt das Licht der Welt. In Deutschland bestimmt seit 1977 das Bundesnaturschutzgesetz (BNatschG), was zum Schutz der Natur und der Artenvielfalt getan und gelassen werden soll.
Bundesnaturschutzgesetz, Artikel 1 und 2 (Auszüge) [15]:
"Artikel 1: Natur und Landschaft sind [...] als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen [...] so zu schützen, dass
- die biologische Vielfalt,
- [...]
- die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind [...].
Artikel 2: Zur dauerhaften Sicherung der biologischen Vielfalt sind entsprechend dem jeweiligen Gefährdungsgrad insbesondere
- lebensfähige Populationen wild lebender Tiere und Pflanzen einschließlich ihrer Lebensstätten zu erhalten [...],
- Gefährdungen von natürlich vorkommenden Ökosystemen, Biotopen und Arten entgegenzuwirken,
- Lebensgemeinschaften und Biotope mit ihren strukturellen und geografischen Eigenheiten in einer repräsentativen Verteilung zu erhalten [...]."
In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Naturschutzgesetz und in der Schweiz gibt es das Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (das in seiner ersten Fassung bereits 1967 in Kraft trat [16].
Abb. 9: Abwasserrohr, Foto: USDA/Wikimedia Commons
1977 erkennt die UNESCO die ersten Biosphärenreservate an [17]. 1980 werden in dem von der IUCN veröffentlichten Text zur "Welt-Naturschutz-Strategie" (World Conservation Strategy) zum ersten Mal die Fragen der Biodiversität mit einer Form der Entwicklung in Verbindung gebracht, die im Englischen als "sustainable" – zu deutsch: nachhaltig – bezeichnet wird. Dieser Text enthält die starke Formulierung, dass die Menschheit als ein Teil der Natur dem Untergang geweiht sei, wenn die Natur und die natürlichen Ressourcen nicht geschützt werden.
5.2 Das Abkommen von Rio
Der Umweltfond der Vereinten Nationen (Globale Umweltfazilität = ein Fonds zur Finanzierung vom Umweltschutzprojekten) wurde 1990 aufgelegt, um die steigenden Kosten der Projekte des UNEP in den Entwicklungsländern zu finanzieren. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichten IUCN, UNEP und der WWF (World Wildlife Fond, heute World Wide Fond for Nature) gemeinsam "Caring for the Earth: A Strategy for Sustainable Living" (Unsere Verantwortung für die Erde – eine Strategie für eine nachhaltige Lebensführung), ein vorbereitendes Dokument für die Agenda 21, die 1992 auf dem Erdgipfel von Rio (von 178 Staaten) verabschiedet wurde. Ebenfalls im Jahr 1992 trägt die Europäische Agrarpolitik (Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union / GAP) zum ersten Mal den Umweltfragen Rechnung. Außerdem wird durch eine europäische Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, kurz auch FFH- oder Habitat-Richtlinie) Natura 2000 ins Leben gerufen, ein zusammenhängendes Netz von Schutzgebieten [18].
5.3 Das Kyoto-Protokoll
1997 fordert das Kyoto-Protokoll: Wenn die Biodiversität erhalten bleiben und die Zukunft der Menschheit gesichert werden soll, muss dem Klimawandel entgegengewirkt werden. Im Jahr 2000 ist die ökologische Nachhaltigkeit eine der acht Millenium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals), die zu erreichen sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgenommen hat. Vorgesehen war, die Ziele bis 2015 umzusetzen, doch schon jetzt ist abzusehen, dass die Ziele nicht erreicht werden. Weiterhin haben sich 2002 die Regierungen dazu verpflichtet, zur Eindämmung des Biodiversitätsverlustes das gegenwärtige Tempo des Artensterbens auf weltweiter, regionaler und lokaler Ebene stark zu verlangsamen. Die geplanten Ziele wurden auch hier nicht erreicht, so dass 2011 neue, enger gefasste Zielvorgaben beschlossen wurden. Diese berücksichtigen auch die Ziele des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt [19]. Seit der Jahrtausendwende gibt es eine Initiative zur regelmäßigen Beurteilung des Zustandes der Ökosysteme des Planeten. Über 1300 Experten veröffentlichten 2005 ihren Bericht, das Millenium Ecosystem Assessment [20], in dem folgende Tatsachen festgestellt werden:
- Die Biodiversität trägt zur Sicherheit, zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der menschlichen Art bei.
- Die durch Menschen verursachte Verminderung der Biodiversität war in den letzten 50 Jahren größer als im gesamten Zeitraum der Menschheitsgeschichte zuvor.
- Der Zustand der Ökosysteme könnte sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erheblich verschlechtern und außerdem verhindern, dass die Millenium-Entwicklungsziele erreicht werden, wenn nicht Anstrengungen gemacht werden, die alle bisherigen in den Schatten stellen.
Abb. 10: Eisschollen, Foto: Mathilde Prigent, Wikimedia Commons (Free art license)
5.4 Ein sechstes Massenaussterben?
Das Bewusstsein, dass die Biodiversität bedroht ist, reicht offenbar nicht aus. Das UNEP kommt in seinem 2012 erschienenen Bericht "Global Environment Outlook 5" ("Perspektiven der weltweiten Umweltentwicklung") [21], zu der Feststellung, dass die Anstrengungen zum Umweltschutz kaum oder gar keinen Erfolg haben. Vielerorts sind kritische Grenzwerte erreicht bzw. überschritten, und der Raubbau an der Umwelt gefährdet die Ökosysteme und damit die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen.
Nach fünf großen Massenaussterben, die in geologischen Zeiträumen die Biodiversität jeweils stark zurückgehen ließen, bahnt sich nunmehr allem Anschein nach ein sechstes an. Das Artensterben schreitet gegenwärtig schneller voran als evolutionsgeschichtlich erklärlich: 100 bis 1000 Mal schneller als in vormenschlicher Zeit [22]. Wir erleben gerade eine rasante Verminderung der Vielfalt der Gene, der Arten und der Habitate. Die Hauptursachen für die Erosion der Biodiversität sind die Zerstückelung der Habitate, die Verschlechterung ihres Zustandes oder gar ihr Verschwinden sowie der Klimawandel. Hinzu kommen der internationale Handel mit bedrohten Arten und die Einführung invasiver Arten.
Tausende von Arten sind bedroht
Die von der IUCN 2022 veröffentlichte Bilanz bestätigt es: Die IUCN hat 150 388 Arten erfasst – das entspricht etwa 7% der weltweit heute bekannten Arten und stellt laut Wissenschaftlern eine repräsentative Stichprobe aller Arten dar. Von diesen 150 388 Arten sind 42 108 bedroht. Sie stehen auf der "Roten Liste der gefährdeten Arten" [23].
Allein bei der Gruppe der Wirbeltiere sind laut der IUCN-Liste weltweit 18% der Arten gefährdet: 27% der Säugetiere, 13% der Vögel, 21% der Reptilien und 41% der Amphibien. Für Fische können keine prozentualen Angaben gemacht werden, da zu wenig Arten erfasst sind (nur 70%). Bei den Säugetieren sind dagegen 91% erfasst, bei den Vögeln 100%, bei den Amphibien 88% und bei den Reptilien 87%. Bei den Pflanzen ist eine Aussage nur für die nacktsamigen Pflanzen sinnvoll (94% der bekannten Arten sind in der IUCN-Liste erfasst): 42% sind vom Aussterben bedroht [23].
Die Diversität der Kulturpflanzen ist bedroht
Von den geschätzten 30 000 essbaren Pflanzenarten haben die Menschien im Laufe der Jahrhunderte 6000 bis 7000 Arten für ihre Ernährung angebaut. Heutzutage werden lediglich noch etwa 170 unterschiedliche Nutzpflanzen angebaut. Drei dieser Nutzpflanzen – Reis, Weizen und Mais – decken mehr als 40% unseres Kalorienbedarfs ab [24]. In dieser Reduzierung liegt eine Gefahr für die Ernährung der Menschen, die durch den Klimawandel noch verstärkt wird. Gegen Dürre, Insekten und Krankheiten widerstandsfähige Sorten werden nicht mehr angebaut.
5.5 Internationale Aktionen
Gegenwärtig ruhen die internationalen Anstrengungen zur Erhaltung der Biodiversität auf vier Pfeilern. Der erste ist die politische Biodiversitätskonvention [3]. Der zweite ist die Erforschung der Biodiversität: Gebündelt werden die Forschungsanstrengungen vom Netzwerk DIVERSITAS (seit 2015: Future Earth) [25], das UNESCO und Internationaler Wissenschaftsrat ICSU (International Council for Science) auf den Weg gebracht haben, mit dem Ziel, Experten miteinander in Kontakt zu bringen. Der dritte Pfeiler ist die Auswertung der zusammengetragenen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse durch das Millenium Ecosystem Assessment (Bewertung von 24 Schlüssel-Ökosystemdienstleistungen) und durch die IPBES [26] (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services).
Die erst 2012 gegründete IPBES ist für die Biodiversität das, was das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) für den Klimawandel darstellt. So wie das IPCC auch Weltklimarat genannt wird, nennt man die IPBES auch Weltbiodiversitätsrat.
Den vierten Pfeiler schließlich bilden die Messungen der Veränderungen der Biodiversität sowie das Modellieren von Prognosen für die Zukunft. Dafür richtet seit 2009 das Netzwerk GEO BON [27] (Group on Earth Observation Biodiversity Observation Network) auf allen Kontinenten Beobachtungsstationen ein, die die Veränderungen regelmäßig erfassen sollen.
Im Mai 2019 hat der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) einen Sachstandsbericht zum Zustand der Biodiversität und der Ökosystemdienstleistungen auf der Erde herausgegeben [26].
Mäßige Ergebnisse
Das Bewusstsein über die Bedeutung und den Verlust der Biodiversität bahnte sich zwar erst spät den Weg aus dem Kreis der Wissenschaftler und Naturschützer zur Allgemeinheit, inzwischen finden jedoch zahlreiche Aktionen statt, insbesondere auf lokaler Ebene. Ihnen ist zum Beispiel zu verdanken, dass der Untergang einiger weniger Arten verhindert werden konnte, darunter solche mit symbolischer Bedeutung, wie der Afrikanische Elefant, das Przewalski-Pferd, der brasilianische Schwarzhandtamarin (ein Krallenaffe) oder auch das Indische Panzernashorn.
Abb. 11: Przewalski-Pferde (auf der Causse Méjean, einem Hochplateau im
französischen Zentralmassiv),
Foto: Ancalagon,
Wikimedia Commons
(CC BY-SA 3.0)
In der von den Vereinten Nationen im Mai 2010 veröffentlichten dritten Ausgabe der "Perspektiven der weltweiten Biodiversität" (Global Biodiversity Outlook 3) wird festgestellt, dass keines der 110 Länder, die bei den Vereinten Nationen ihren Bericht abgaben (der die bis 2010 erreichten Fortschritte dokumentieren sollte), die vorgesehenen Ziele erreicht hat: Die Gesamtfläche der natürlichen Habitate geht weiterhin fast überall zurück und ihr Zustand verschlechtert sich fortlaufend [28].
6. Die Ökosysteme übernehmen ökologische Aufgaben
Heutzutage ist die Erosion der Biodiversität ein globales Umweltproblem geworden – genauso wie der Klimawandel – und der Handlungsbedarf ist mittlerweile überall in den Köpfen angekommen. Das hat 2010 zur Gründung der IPBES geführt (von der schon weiter oben die Rede war), die unter Federführung der Vereinten Nationen eine Gruppe internationaler Experten zusammenführt, die nach dem Modell des IPCC die Entwicklung der Biodiversität verfolgen soll.
6.1 Die Überlebensfähigkeit der Ökosysteme
Die Untersuchung der Funktion der Ökosysteme und ihrer "Dienstleistungen" ist alles andere als abgeschlossen. Fest steht: Je größer die Biodiversität eines Ökosystems, desto größer ist auch seine Überlebensfähigkeit bzw. seine Resilienz, d. h. seine Fähigkeit, sich nach einer Störung zu regenerieren. Die wirkenden Mechanismen sind jedoch noch wenig bekannt und die Forschung auf diesem Gebiet muss intensiviert werden. Fest steht auch, dass die Arten sich umso besser an eine gestörte Umwelt anpassen, je größer ihre genetische Vielfalt ist. Ein in China durchgeführtes Experiment hat gezeigt, dass die genetische Vielfalt beim Reis seine Widerstandskraft gegen die hauptsächliche Reiskrankheit, den Schimmelbefall, beträchtlich steigert. Als die krankheitsanfälligen Reissorten zusammen mit anderen angebaut wurden, erhöhte sich der Ertrag um 89%, und die Krankheit ging um 94% zurück. Nach zwei Jahren des Experimentierens konnte auf Fungizide ganz verzichtet werden [29].
6.2 Die biologische Vielfalt der Ökosysteme
Man unterscheidet bei der biologischen Vielfalt von Ökosystemen drei Aspekte. Der Artenreichtum eines Ökosystems ist die Anzahl der verschiedenen in ihm lebenden Arten. Die funktionale Vielfalt umfasst die besonderen Fähigkeiten bestimmter Arten eines Ökosystems, zum Beispiel die Fähigkeit, Stickstoff aus der Luft zu fixieren. Und drittens zeichnen sich einige Ökosysteme dadurch aus, dass in ihnen Arten leben, die nirgends sonst zu finden sind, sogenannte endemische Arten. Die Beurteilung der Dienstleistungen eines Ökosystems muss allen drei Aspekten Rechnung tragen, auch wenn die funktionale Vielfalt die wichtigste ist.
6.3 Die ökologischen Dienstleistungen der Ökosysteme
Die Dienstleistungen eines Ökosystems sind mit den biogeochemischen Kreisläufen verbunden, die in ihm ablaufen, insbesondere mit dem Kohlenstoffkreislauf und dem Wasserkreislauf. Sie hängen aber auch mit den vielfachen Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen sowie zwischen den Lebewesen und ihrer Umgebung zusammen. Die wichtigsten Dienstleistungen der Ökosysteme sind: die Regulierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre, die Wasseraufbereitung, die Wiederverwertung von Abfällen oder auch die Befruchtung der meisten Blütenpflanzen durch Tiere. Die ökologischen Dienstleistungen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Versorgungsleistungen (Nahrungsquellen, Arzneimittelquellen, pflanzliche Fasern, Holz usw.), Regulierungsleistungen (CO2-Senken, O2-Quellen, natürliche Wasserklärung usw.) und Kulturleistungen (Tourismus, Naturerlebnis, Erholung, spirituelle oder religiöse Stätten usw.).
Im 4. Umweltzustandsbericht (Global Environment Outlook 4) [30] wird gleich zu Beginn des Kapitels über Biodiversität festgestellt, dass "People rely on biodiversity in their daily lives, often without realizing it" (Die Menschen sind in ihrem Alltag auf die Biodiversität angewiesen, meistens ist ihnen das allerdings nicht bewusst). Zu den Ökosystemleistungen, die sich ständig verschlechtern, gehören: die Süßwasserreserven, die Meeresfischbestände, die Kapazität der Atmosphäre, Schadstoffe zu eliminieren, die Pollenübertragung, die Parasitenresistenz der Landwirtschaftssysteme, die Anzahl und Qualität der für Freizeit und Erholung wertvollen Stätten.
7. Was tun?
Die Biodiversität nimmt von den Polen zum Äquator hin zu – die tropischen Regenwälder gelten als die artenreichsten Ökosysteme. Um den Äquator herum befinden sich auch die meisten "Biodiversitäts-Hotspots" [31]. Weltweit wurden 36 Gegenden als Biodiversitäts-Hotspots eingestuft. Sie gelten in Anbetracht ihrer reichen (und zugleich bedrohten) Biodiversität als besonders schützenswert und beherbergen sehr viele endemische Arten. Zur Erinnerung: Eine Art heißt endemisch, wenn sie geografisch nur in einer fest abgegrenzten Region zu finden ist. Diese Brennpunktregionen erstrecken sich allerdings nur noch über etwa 2,5% der weltweiten Landoberfläche (über 70% der ursprünglichen Habitate dieser Hotspots wurden bereits zerstört). Über die Hälfte aller Pflanzen und 43% aller Landwirbeltierarten sind in den Biodiversitäts-Hotspots endemisch [32].
Abb. 12: Satellitenfoto der Erde, Foto: NASA, Earth Observatory
7.1 Biome und Ökoregion
Wissenschaftler und Naturschutzorganisationen haben auf unserer Erde – neben den Biodiversitäts-Hotspots – noch andere Regionen ausgemacht, deren Biodiversität bedroht und gleichzeitig besonders schützenswert ist. Zum Teil überlappen sich diese Gebiete.
Zum Beispiel hat die internationale Vogelschutzorganisation "BirdLife International" 218 "Endemic Bird Areas" (EBAs, Gebiete mit endemischen Vogelarten) identifiziert – 105 davon auf Inseln, 113 auf dem Festland. 77% der EBAs befinden sich in den Tropen und Subtropen. Die EBAs beherbergen 93% der Vogelarten mit beschränkter Verbreitung, die Hälfte von ihnen ist gefährdet bzw. gering gefährdet, und die andere Hälfte ist von einer Verkleinerung und/oder Verschlechterung ihrer Habitate bedroht [33].
Der WWF wiederum hat 200 Schlüsselregionen ausgemacht, die sogenannten "Global 200 Ecoregions": Sie beherbergen den größten Teil der Biodiversität unserer Erde [34]. Global 200 Ecoregions und EBAs überlappen mit den Biodiversitäts-Hotspots und anderen Schutzgebieten (Centres of Plant Diversity, High-biodiversity Wilderness Areas) [35].
Die Unterteilung in verschiedene Naturschutzgebiete dient vor allem einem Zweck. Sie soll helfen, eine Liste derjenigen Gebiete zu erstellen, in denen Maßnahmen zum Erhalt und zur Wiederherstellung der Biodiversität höchste Priorität haben.
7.2 Die Anstrengungen zum Erhalt der Biodiversität in Europa
Auf europäischer Ebene gibt es ein EU-weites Netz von Schutzgebieten: Natura 2000 ist über Ländergrenzen hinweg um die Erhaltung gefährdeter Arten und ihrer Habitate bemüht. Inzwischen sind im Rahmen von Natura 2000 schon 18,6% (Stand 2022) der Landfläche Europas als Naturschutzgebiete ausgewiesen [36].
Um das Ziel der 2011 beschlossenen Biodiversitätsstrategie ("Lebensversicherung und Naturkapital: Eine Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020") zu erreichen, wurde anhand von regelmäßigen Bestandserhebungen und Indikatoren der Zustand der biologischen Vielfalt evaluiert. Die Ergebnisse aus den verschiedenen Ländern wurden zusammengetragen, um auf EU-Ebene eine Aussage über die Entwicklung der Biodiversität in Europa machen zu können.
Zitat aus der Biodiversitätsstrategie 2030 [37]: "Zu den wichtigsten Maßnahmen, die bis 2030 umgesetzt werden sollen, gehören:
- die Schaffung von Schutzgebieten auf mindestens 30% der Land- und Meeresgebiete in Europa [...];
- die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme in der gesamten EU bis 2030 durch eine Reihe konkreter Verpflichtungen und Maßnahmen, etwa dadurch, dass der Einsatz und die Risiken von Pestiziden um 50% bis 2030 verringert und EU-weit 3 Milliarden Bäumen gepflanzt werden; [...]"
Bei der Erfassung des Zustands der Biodiversität wird immer mehr auch auf die Mitarbeit von freiwilligen Naturbeobachtern gesetzt. Ein Beispiel ist die Initiative "Vigie-Nature", die vom Naturkundemuseum in Paris koordiniert wird. Wissenschaftler geben den Laien Formulare und eine genaue Anleitung an die Hand, und diese beobachten das ganze Jahr über die Natur in ihrer Umgebung (Vögel, Schmetterlinge, Fledermäuse, Amphibien, Schnecken, Hummeln, Pflanzen, ...) und geben ihre Ergebnisse an die Wissenschaftler weiter. Im deutschsprachigen Raum betreuen NABU-Naturgucker (Deutschland), der Österreichische Naturschutzbund und Info Flora (Schweiz) ähnliche Projekte [38].
7.3 Die Gründe für den Rückgang der Biodiversität
Die Gründe für die Erosion der Biodiversität in Europa sind bekannt. Der Hauptgrund ist der Niedergang der traditionellen Land- und Forstwirtschaft. Durch die intensive Bewirtschaftung der Böden wurden natürliche und halbnatürliche Habitate zerstört. Weitere bedeutende Verluste der Biodiversität gehen auf das Konto von zunehmender Urbanisierung, Industrialisierung, Flussbettverlagerungen und Flussumleitungen, Zerstückelung der Habitate durch Infrastrukturentwicklung und wachsendem Massentourismus.
Inzwischen sind sich die Forscher einig, dass auch der Klimawandel in starkem Maße zur Erosion der Biodiversität beiträgt. Daher ist der Kampf gegen die globale Erwärmung eng mit dem Kampf gegen die Erosion der Biodiversität verbunden.
Um das durch die UN-Klimarahmenkonvention festgelegte 2-Grad-Ziel zu erreichen (Begrenzung der globalen Temperaturerhöhung auf 2°C bis zum Jahr 2100) muss die Emission von Treibhausgasen drastisch reduziert werden. Laut IPCC müssen die Emissionen bis 2050 gegenüber dem Wert vom Jahr 2000 um 85% reduziert werden und spätestens im Jahr 2015 ihr Maximum erreicht haben [39]. Eine Möglichkeit, den CO2-Gehalt der Atmosphäre zu reduzieren, liegt in dem Erhalt bzw. in der Wiederherstellung vieler Ökosysteme unserer Erde (insbesondere tropischer Regenwälder, Moore und Agrarlandschaften). Ökosysteme stellen bedeutende CO2-Senken dar. Außerdem wird in den Ökosystemen unserer Erde fast dreimal so viel Kohlenstoff gebunden wie in der Atmosphäre; der Erhalt der bestehenden Kohlenstoffreservoirs hat daher höchste Priorität, unmittelbar gefolgt von (Wieder-)Aufforstung und Wiedervernässung von Mooren.
8. Zusammenfassung
4,6 Milliarden Jahre geologischer und biologischer Evolution haben unserem Planeten eine außerordentliche Biodiversität beschert: genetische Vielfalt, Artenvielfalt und eine Vielfalt der Ökosysteme. Diese Biodiversität ist durch den Eingriff und die Aktivitäten der Menschen immer mehr in Bedrohung geraten. Bereits Lamarck [6] prophezeite in seinem Spätwerk die Selbstzerstörung der Menschheit durch Artenzerstörung infolge von Entwaldung und Bodenerosion.
Die wachsende und sich entwickelnde Menschheit hat die Umwelt verändert und die Biodiversität mit allen ihren verschiedenen Facetten drastisch reduziert. Verstärkt wird die Zerstörung der Biodiversität auch noch durch den Klimawandel. Es sterben hundert bis tausend Mal mehr Arten aus, als aus evolutionären Gründen erklärlich, und es wird prophezeit, dass zahlreiche Arten noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts verschwunden sein werden. Hinzu kommt, dass die Menschen in einem Jahr so viele natürliche Ressourcen verbrauchen, dass die Erde dafür zur Regeneration anderthalb Jahre braucht [40], die Erneuerungskapazität des Planeten also nicht ausreicht. Auch wenn diese Schätzungen mit ziemlich großen Unsicherheiten behaftet sind, besteht kein Zweifel daran, dass unser Planet sich in einer schweren Krise befindet, deren Folgen noch lange Zeit zu spüren sein werden.
Dabei sind wir in vieler Hinsicht von der Biodiversität abhängig. Unter anderem schöpfen wir aus ihr (fast) unseren gesamten Nahrungs- und Arzneimittelbedarf. Auch die biogeochemischen Kreisläufe hängen von ihr ab, ganz davon abgesehen, dass die Natur mit ihrer Biodiversität ein unersetzlicher kultureller Schatz ist. Die ökologischen Leistungen, die uns die Biodiversität kostenlos liefert, und von denen wir ganz und gar abhängig sind, können nur sehr schwer durch Technologie ersetzt werden; und wenn überhaupt, ist dies mit enormen Kosten verbunden. Auch wenn wir noch nicht alle Funktionsmechanismen der Ökosysteme kennen, so können/sollten wir doch handeln.
Dafür reicht unser heutiges Wissen: Die Erhaltung der Biodiversität und ihre nachhaltige Nutzung müssen integrierter Bestandteil der Entwicklung werden und beide müssen in die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen einfließen. Deshalb sollten auch Umweltfragen und nachhaltige Entwicklung so früh wie möglich in der Schule behandelt werden.
Bildnachweis
Abb. 4: Regenwald Buchenwald Wiese Wüste |
Perojevic Willow Jenny Schlüpmann Nepenthes |
Public Domain CC BY-SA 2.5 privat CC BY-SA 3.0 |
Fußnoten
1: Edward O. Wilson (* 1929) ist ein US-amerikanischer Biologe und Naturschützer. Sein Spezialgebiet ist die Myrmekologie (Ameisenkunde).
2: Biodiversity, E. O. Wilson (Herausgeber), Frances M. Peter (Mitherausgeberin), National Academy Press, Washington D.C., 1988
3: Das internationale Übereinkommen über die biologische Vielfalt und Text der Biodiversitätskonvention (auf Englisch): Convention on Biological Diversity
4: IUCN Red List, Tabelle 1a, Stand: Dezember 2022
5: The Conservation: How many species on Earth?
6: Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) war ein französischer Naturforscher.
7: Ernst Mayr (1904–2005) war ein deutsch-amerikanischer Evolutionsbiologe.
8: Mapping Carbon Beyond Forests: New Harmonized Global Maps of Above and Belowground Biomass Carbon (2010) (ORNL DAAC)
9: Ein Team von Wissenschaftlern hat in Australien die vermeintlich ältesten Fossilien gefunden. Sie stammen von Bakterien und sollen etwa 3,5 Milliarden Jahre alt sein. Quelle: Science Daily (12.11.2013)
10: Theodosius Dobzhansky (1900–1975) wurde in der Ukraine geboren und emigrierte 1927 in die USA. Er war Genetiker und Evolutionsbiologe und zusammen mit Ernst Mayr einer der wichtigen Vertreter der synthetischen Evolutionsbiologie.
11: Charles Darwin (1809–1882) war ein englischer Naturforscher und Begründer der Evolutionstheorie.
12: Wir schreiben hier Pflanze, meinen aber eigentlich Chloroplastida, zu denen die Landpflanzen und die Grünalgen gehören.
13: Weitere Informationen und Fotos zur Meeresschnecke Elysia chlorotica auf Wikipedia und weichtiere.at
14: Kurzes Video: Eine Mimose zieht ihre Blätter ein. Hier ist übrigens nicht die meist bekanntere "falsche Mimose" (Acacia dealbata oder Silberakazie) mit ihren kleinen gelben kugelförmigen Blütenständen gemeint.
15: Gesamter Gesetzestext des Bundesnaturschutzgesetzes
16: Naturschutz in Österreich und Natur- und Heimatschutz in der Schweiz
17: 2024 gibt es weltweit 748 von der UNESCO anerkannte Biosphärenreservate in 134 Ländern (in Deutschland 16, in Österreich 4 und in der Schweiz 2), Quelle: UNESCO-Biosphärenreservate
18: Informationen zu "Natura 2000": Bundesamt für Naturschutz, Europäische Kommission
19: Heinrich-Böll-Stiftung: Die Vielfalt der Natur schützen
20: Millenium Ecosystem Assessment: www.millenniumassessment.org und Ecosystems and Human Well-being: Synthesis
21: GEO5: Global Environment Outlook 5
23: Stand 2022: Anzahl der gefährdeter Arten (Entwicklung 1996–2022) und Rote Liste gefährdeter Arten
24: FAO: Once neglected, these traditional crops are our new rising stars (2018)
25: Future Earth und DIVERSITAS Deutschland
26:
IPBES: Intergovernmental
Platform on Biodiversity and Ecosystem Services = Zwischenstaatliche
Plattform für Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen (auch Weltbiodiversitätsrat
genannt).
Die IPBES
hat im Mai 2019 einen Sachstandsbericht zum Zustand der Biodiversität
und der Ökosystemleistungen der Erde herausgegeben:
Global
assessment report on biodiversity and ecosystem services (Summary for
Policy Makers);
Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger auf Deutsch:
Globales Assessment der biologischen Vielfalt und Ökosystemdienstleistungen
27: GEO BON: Netzwerk zur weltweiten Beobachtung der Biodiversität
28: Global Biodiversity Outlook 3
29: Youyong Zhu et al.: Genetic diversity and disease control in rice, Nature 406 (2000) 718-722
30: Global Environment Outlook 4
31:
Definition: Ein Biodiversitäts-Hotspot ist eine Gegend, in der es mindestens
1500 endemische Gefäßpflanzenarten gibt, und die mindestens
70% ihrer ursprünglichen Vegetation eingebüßt hat;
Liste der Biodiversitäts-Hotspots.
Karte mit den Biodiversitäts-Hotspots: siehe
Critical
Ecosystem Partnership Fund oder
Bildtafel 35.
32: Conservation International: Biodiversity Hotspots
33: Biodiversity a-z: Endemic Bird Areas (EBAs); BirdLife International: Endemic Bird Areas; BirdLife International: Important Bird Areas (IBAs)
34: WWF: "Global Protector"-Schlüsselregionen, WWF: Artenschutz in Zeiten des Klimawandels: Die Auswirkungen der Erderhitzung auf die biologische Vielfalt (2018)
35: : International Union for Conservation of Nature: Terrestrial biodiversity and the World Heritage List, Tabelle 3.6, S. 28
36:
Natura 2000 Barometer
In Deutschland sind 15,4%
der Landfläche als Naturschutzgebiete ausgewiesen
(dazu kommen noch fast 26 000 km2 Meeresnaturschutzgebiete
– das entspricht ca. 45% der Meeresfläche von Nord- und Ostsee);
in Österreich sind es ebenfalls 15,4%
und in Frankreich 11,2%. Alle Zahlen: Stand 2022,
Natura 2000 Barometer.
37: Die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030
38: Naturbeobachtungen an Wissenschaftler melden: NABU-Naturgucker, naturbeobachtung.at, info flora und info fauna: Online-Erfassungsmaske des SZKF (Schweiz)
39: The natural fix? The role of ecosystems in climate mitigation, (UNEP Rapid Assessment Report, 2009)
40:
WWF:
Living Planet Report 2016
(ecological overshoot = ökologischer Überverbrauch,
siehe S. 75 und Glossar auf S. 124).
Weitere Informationen:
Ecological Footprint Network
Abb. 13: Kokospalme (Cocos nucifera), Foto: Jenny Schlüpmann
Letzte Aktualisierung: 19.11.2024